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In Ketten aufs Klo
Zeig mir die Gefängnisse, und ich sage dir, wie demokratisch dein Land ist: Jan de Cock ging freiwillig
hinter Gitter und schrieb darüber ein Buch.

Zum Beispiel Russland. Trotz seinen Ausmassen ist das Gefängnis von Sankt Petersburg viel zu klein. Konzipiert wurde
es für 2000 Häftlinge, 8000 sitzen ein. Es ist das grösste Untersuchungsgefängnis Europas. Genau richtig für Jan de Cock,
der eine Sorge hat: Auf seine offiziellen Anfragen, in einer Zelle übernachten zu dürfen, vernimmt er nur «njet». Kurz
bevor er aufgeben will, stellt ein Freund den richtigen Kontakt her. Jan de Cock packt eine Flasche Cognac als Geschenk
für das hohe Tier ein – als Dankeschön für eine weitere Grenzerfahrung. Für sein Buch «Hotel hinter Gittern» nächtigte
de Cock in einem Jahr in 66 Gefängnissen.
Auf die Idee kam der 42-jährige Soziologe vor 17 Jahren in Chile, wo der Sohn eines Antwerpener Buchhändlers sechs
Jahre lebte und sich um Strassenkinder kümmerte. Sonntags begleitete er die Kinder ins Gefängnis, wenn sie ihre Eltern
besuchten, die meist aus politischen Gründen festgehalten wurden.
Durch das Gitter an seiner Zellentür im Gefängnis von Sankt Petersburg sieht Jan de Cock einen Mann schwanken und
Blut spucken: Tuberkulose. Auf der Pritsche hockt ein Mithäftling, in der Ecke stehen zwei mit Urin gefüllte Plasticfla-
schen. Luxus, verglichen mit dem, was er Wochen zuvor im Zentralgefängnis in Rwanda erlebte – die Latrine für über
6000 Insassen war ein sieben Meter langer Kasten.
Nach fünf Tagen im russischen Gefängnis war de Cock wieder in Freiheit. Anders als die Menschen, deren Geschichten
er drinnen mitbekam und denen er versprach, sie hinauszutragen. Sein russischer Freund Oleg, der selbst einmal sass,
sagte: Unvergleichlich sei der Augenblick der Entlassung. Oleg ging danach als erstes ins Schwimmbad. Dieses Gefühl
der Freiheit! Ob er Lust zu feiern habe, fragte er Jan und legte ihm einen Bärenmantel über. Sie verliessen Sankt Peters-
burg. Der Weg zum Finnischen Meerbusen führte an Birkenwäldern vorbei. Ein Holzsteg ragte zwanzig Meter in einen
zugefrorenen See hinaus. Sie schlugen ein Loch, Jan de Cock tauchte ein und wieder auf. Ein Urschrei. Ein winterliches
Fest der Freiheit.
Jan de Cock, in Russland war es ein Bad im Eiswasser –
Im Zentralgefängnis von Rwanda drängen sich 6400 Ge- wie wird in anderen Ländern die Freilassung gefeiert? fangene auf einem Raum, der für 2500 Menschen angelegt Mit einem Fest in der Familie. Wenn man noch Familie ist. In der Zelle gibt es 40 Zentimeter Platz pro Gefange- hat. Es kann aber auch eine schmerzhafte Erfahrung sein, in die Familie zurückzukehren, weil sich die Rollen wäh- Nur durch Solidarität unter den Insassen. rend der Abwesenheit des Vaters oder der Mutter verändert haben. Sunny Jacobs ging nach 17 Jahren im Hochsicher- Das klingt nach einem frommen Wunsch. heitsgefängnis, davon 5 Jahre in Florida in der Todeszelle, Ich liess mich einen Monat im Butembo-Gefängnis in mit ihren Kindern in die Ferien. Sie sagte: Das ist unsere Kongo einsperren. Als ich hineinkam, hatten die Insassen Art, die Freiheit zu feiern. Sie und ihr Partner Jesse Tafero seit über einer Woche nichts zu essen bekommen. Ich habe waren zum Tode verurteilt worden. Jesse war einer der in vielen afrikanischen Gefängnissen festgestellt, dass es letzten, die auf dem elektrischen Stuhl starben, Flammen nur eine Möglichkeit zu überleben gibt: Man muss solida- kamen aus seinem Kopf. Kurz nach der Hinrichtung wurde risch sein. In Butembo bekamen 75 Prozent der Gefange- der Fall nochmals aufgerollt. Beide waren unschuldig. nen nie Besuch, und ohne Besuch verhungerst du. Wenn ein Angehöriger oder Freund etwas Bohnen oder Maniok Sie besuchten in San Quentin den Todeskandidaten Jarvis mitbringt, wird das immer geteilt, weil die Insassen wis- Master und sagen von ihm, er sei der freiste Mensch, der sen: wenn sie heute nicht teilen, bekommen sie nächste Ihnen auf Ihrer Reise begegnet sei. Wie ist das möglich? Die Zellen sind so klein, dass man kaum die Arme ausstre- cken kann. Als Sunny in der Zelle lebte, durfte sie keine Was geschieht, wenn man nichts zum Teilen hat? Bücher oder Briefe bekommen. Sie konnte sich nur selber In jedem Trakt gibt es eigene Regeln. Die Gefangenen or– helfen und begann mit Yoga und Meditation. Auch Jarvis ganisieren Wahlen: einer ist der Präsident, ein anderer der Master hat gelernt wie man im Geist die Zelle verlassen Pastor, einer zuständig für die Buchhaltung. Wenn nichts kann. Er wurde Buddhist. Als Sunny malen wollte und mehr zu essen da ist, gibt es eine Versammlung, und jeder man ihr das Essen – rote Bohnen mit Sauce – unter der Tür muss etwas abgeben. Die Höhe der Abgabe ist abhängig durchschob, malte sie mit den Enden ihrer langen Haare, davon, wie alt du bist, wie weit du vom Gefängnis entfernt weil sie keinen Pinsel hatte, die Farbe war ihr Essen. Jeder wohnst und von deiner Tat. Du bekommst einige Tage ist für seine Freiheit selbst verantwortlich. Im Klong-Prem-Gefängnis in Bangkok werden die Gefan- Was geschieht, wenn man es nicht schafft? Dafür gibt es einen mit einem Stock, der für die Bestrafung Viele werden verrückt. Ich habe immer noch Briefkontakt mit Abdul, den ich in Klong Prem kennenlernte. Er ist seit fünf Jahren in Ketten. Unter der Dusche, auf dem Klo, Wie viele Tage brauchten Sie, um sich zu Hause in Löwen beim Essen, Schlafen, Besuchempfangen: immer in Ketten. von einem Monat in Kongo zu erholen? Das übersteht man nur durch Willenskraft und durch die Ich musste drei Tage später wieder zur Arbeit … Nach Gewissheit, dass draussen jemand da ist, der einen nicht Kongo hatte ich Imodium mitgenommen, aber ich hätte besser Abführmittel eingepackt. Maniok verstopft. Ich liess mich im Tropeninstitut in Antwerpen durchchecken – alles Schwester getötet hat. Sie sagte, sie wolle nicht den Rest in Ordnung. Aber auf meiner Weltreise hatte ich schlim- ihres Lebens eine Gefangene ihres Hasses und Leidens sein. Einen geliebten Menschen durch Mord zu verlieren, ist unvorstellbar schlimm. Die Gefängnisdirektion eines Warum waren Sie nie länger als einen Monat in Haft? belgischen Gefängnisses stellte uns ein Zimmer zur Verfü- Auch wenn ich ein Jahr lang eingesperrt wäre, würde ich gung, man brachte Kaffee, wir sassen zu dritt zwei Stunden nie erfahren, was es wirklich heisst, Gefangener zu sein. beisammen. Anschliessend sagte die Frau, sie sei nach Ich weiss ja, dass meine Freunde und meine Familie auf sechs Jahren erstmals wieder in der Lage, etwas zu fühlen. mich warten. Ich würde die extreme Einsamkeit, die viele Etwas völlig anderes erlebten Sie in der Fuchu-Haftanstalt in Japan. Dort setzt man nicht auf Rehabilitation, sondern In welches Gefängnis war es am schwierigsten hineinzu- Kein Sprechen, keine Gesten, dazu Piktogramme, in wel- Ich warte auf Antwort von einigen asiatischen Gefängnis- cher Haltung man zu schlafen oder sich hinzuhocken hat, sen, ausserdem aus Guantánamo und Abu Ghraib. Als ich wenn man vor der Dusche wartet. Alles spricht dort gegen in China war, war ein Gefängnisbesuch auf offiziellem die Menschlichkeit, gegen das Prinzip, nach vorne zu se- Weg nicht möglich, also liess ich mich verhaften. Ich ver- hen, zu lernen. Wer eine falsche Bewegung macht oder teilte auf dem Platz des himmlischen Friedens Blumen an sich die Haare wäscht, obwohl man an dem Tag nur das die Soldaten. Dafür bekam ich eine Nacht. Gesicht hätte waschen dürfen, bekommt Isolationshaft oder wird mit Handschellen und Lederriemen gefesselt und Hatten Sie keine Angst, dass aus dem Spass plötzlich Ernst kann tagelang kein Glied mehr rühren. Die Rückfallquote liegt dort bei 45 Prozent, trotz der Zähmung des Körpers Ich konnte nur hoffen. Es ist wichtig, mit der Angst umge- hen zu lernen, bevor man sich auf solche Reisen begibt. Meine Schule waren die Lebensjahre in Chile unter Pino- chet. Für mich ist Angst das Gegenteil von Vertrauen. Ich Freiheit würde ich ganz in der Nähe von Glück ansiedeln. glaubte schon immer, dass in jedem Menschen etwas Gutes Dazu fällt mir eine Geschichte ein: In Kongo konnten wir steckt, und nach meinen Erfahrungen glaube ich noch Bohnen und Maniok nicht essen, weil wir kein Holz zum Feuern hatten. Kinder aus dem benachbarten Schulhaus sammelten für uns im Dschungel Holz. Wir bedankten uns, indem wir für sie eine Stunde lang über die Mauer hinweg Ich hinterfrage sie zusehends. In Kongo sind die Gefäng- Lieder sangen. Es war das Einzige, was wir Gefangenen nisse mit den Belgiern, mit der Kolonialisierung ins Land gekommen. Ein über 80-jähriger Mann, den ich im Ge- fängnis kennenlernte, erzählte mir, wie man in seiner Weshalb ist Ihnen in den Gefängnissen nie etwas zugestos- Kindheit im Dorf mit Verbrechern verfuhr: Die Weisen sen? Sie sind schlank, blond und trafen auf die härtesten versammelten sich unter einem Mangobaum, während sich die Bewohner im Kreis um den Täter stellten. Jeder musste In schwierigen Situationen gibt es zwei Möglichkeiten: in etwas Gutes über den Angeklagten sagen. Der schlug dann Panik auszubrechen oder Vertrauen zu haben. Ich vertraue. vor, wie er die Gemeinschaft für seine Tat entschädigen Natürlich hatte ich Probleme – nicht nur mit Insassen, auch könnte. Jemanden einzusperren, ist gegen deren Natur. mit Wärtern. Es gab körperliche Übergriffe, aber was mich Natürlich haben wir die Verantwortung, die Gesellschaft schützte, war die Solidarität der anderen Insassen. Es ist vor Verbrechern zu schützen. Das Problem ist aber, dass nicht schwierig, von all den schlechten Dingen im Gefäng- Gefangenschaft einem Menschen körperlich und seelisch nis zu erzählen, es ist eine aggressive Welt, aber das darf zu sehr schadet. Täter sind gebrochene Menschen, die nicht das letzte Wort sein. Man sollte auch die Geduld, Kreativität und Freundschaft der Gefangenen erwähnen. Was sie getan haben, darüber haben die Richter ent schie- Haben Sie darüber auch mit Opfern gesprochen? den. Es ist nicht an mir, sie ein zweites Mal zu verurteilen. Letzten August bekam ich einen Anruf von einer jungen Wir müssen das Gute herausschälen und ihnen zeigen, dass Frau, die mit mir den Mann besuchen wollte, der ihre NZZ Folio 12/2006 - Thema: Freiheit, www.nzzfolio.ch

Source: http://www.literaturliste.ch/rezensionen/NZZ%20Folio%20de%20Cock.pdf

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