Vortrag_leuchte_11.05.10


Vortrag der Wissenschaftlichen Begleitung im Rahmen der Fachkonferenz
zum Projekt „Ich will mich“, am 11. Mai 2010 in Magdeburg
(Aufsatz erscheint demnächst in: Kulig & Schibort & Schubert (2010) Verlag Kohlhammer) Sehr verehrtes Fachpublikum, sehr verehrte Damen und Herren, als Mitarbeiter der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes IWM möchte ich Ihnen einige Zwischenergebnisse des ersten Jahres präsentieren: Zunächst kurz zum Inhalt meines Vortrags:
1. Aufgaben und Methoden der Wissenschaftlichen Begleitung 2. Vorstellung des Ablaufplanes zur Medikamentenreduktion 3. Einige allgemeine Beobachtungen und deren Einordnung 4. Wenn Fälle berichten… Einige spezielle Beobachtungen 5. Reflexion und Ausblick
1. Aufgaben und Methoden der Wissenschaftlichen Begleitung
Die zentrale Aufgabe der Wissenschaftlichen Begleitung besteht darin, mögliche Persönlichkeits- und Verhaltensveränderungen, wie sie mit der Reduktion von psychopharmakologischen Medikamenten bei unseren Bewohnern einhergehen können, zu dokumentieren und zu untersuchen. Auf der Grundlage einer kon- trollierten Einzelfallforschung, genauer der Teilnehmenden Beobachtung, der Bewohner- und der gezielten Mitarbeiterbefragung wird versucht, ein umfassen- des Bild der individuellen Entwicklungen zu zeichnen. Aufgabe ist es ferner, möglichst unvoreingenommen und ergebnisoffen an die Fragen der Medikamen- tenreduktion heranzutreten und vor diesem Hintergrund begründet sich auch die Herangehensweise. Es geht um individualgeschichtliche Verläufe, um Entwick- lungs- und Veränderungsprozesse, die, weil sie im Alltag der Bewohner prak- tisch und symbolisch zutage treten, auch nur dort aufspürbar sind. Dem entspre- chend, so eine weitere Säule des methodischen Vorgehens, sind Datenerhebung, Datenaufbereitung und Datenauswertung in einem fortlaufenden zirkulären Daten erheben (1)
Codieren, Auswerten (3)
Daten dokumentieren (2)
Am Ende der Datenauswertung sollen Fallporträts in Form von handhabbaren „dichten Beschreibungen“ (C. Geertz) erarbeitet werden, die imstande sind, den gesamten sozialen und biographischen Entwicklungsprozess im Rahmen des Reduktionsprogramms einzufangen und nachzuzeichnen. Im Mittelpunkt des Interessens stehen dabei folgende Fragebereiche:
1. Psychosoziales Verhalten
Welche Veränderungen im Verhalten sind aufgefallen? Wie integriert sich die
Bewohnerin/der Bewohner im WB?
2. Körperlicher Bereich und Motorik
Welche körperlichen und motorischen Veränderungen sind aufgefallen?
3. Intellektuelle Fähigkeiten
Welche intellektuellen Fähigkeiten haben sich in der letzten Zeit positiv entwi-
ckelt?
4. Selbständigkeit und eigene Aktivitäten
Welche Eigenaktivitäten zeigt die Person? Ist die Person selbstständiger gewor-
den?

Zum Verständnis und zur Vorgehensweise möchte ich Ihnen zunächst den Ab-
laufplan zur Medikamentenreduktion vorstellen:
2. Vorstellung des Ablaufplanes zur Medikamentenreduktion

Wir selbst mussten mit Beginn des Projektes lernen, die Erfahrungen des Heran-
gehens in einen Auswertungs- und Reflexionsrahmen zu bringen Dieser erlaubte
es schließlich, einen präziseren Ablaufplan mit konkreten Schritten und perso-
nellen Verantwortlichkeiten festzulegen
= Der Ablaufplan steht nicht als starres Gebilde, sondern passt sich den reflek- tierten Erfahrungen bzw. der Bewährbarkeit im Umgang mit dem Ablaufplan 1. Teilnehmervorschläge aus den Teams an die Heimleitung (Teams der WB) 2. Festlegung der Teilnehmer durch die Heimleitung und Vorschläge derglei-chen an die Fachärzte (Heimleitung) 3. Check-up zur aktuellen Situation des Bewohners durch die Fachärzte, Diag-nose und weitere Untersuchungen, Abstimmungen, FÄ geben `grünes Licht´ und entwickeln die Reduktionspläne (Fachärzte) - Drei bis vier Wochen wird Zeit gegeben! - 4a) In dieser Zeit erfolgen die Fallkonferenzen mit Dr. Freitag; hier auch die Er-stellung des Krisenplanes (Teams der WB und Pädagogische Leitung) 4b) Parallel dazu bekommen die Fachärzte die Möglichkeit, sich untereinander abzustimmen (Fachärzte, Dr. Freitag) 5. Offizieller Beginn der Medikamentenreduktion der neuen Teilnehmer (Teams der WB) 6. Enge Kontrolle und Anpassung des Reduktionsplanens an die aktuelle Situa-tion; jeder neue Reduktionsschritt wird mit der Pädagogischen Leitung und der Wis-senschaftlichen Begleitung kommuniziert (Teamleitung) 7. Sammlung der Daten und Absprachen in den einzelnen Wohnbereichen 8a) Besprechung und Reflexion der Einzelfälle in den Teams – 14-tägig (Teams der WB) 8b) Erstellung der Beobachtungsbögen zu den Einzelfällen – jeweils am Ende des laufenden Monats; Datei per Mail an die Heimleitung (Teamleitung) Weiterleitung der Beobachtungsbögen am Ende des Monats an die Wissen-schaftliche Begleitung per Sammelmail (Heimleitung) 9. Monatliche Konsultationen zum Projekt IWM mit den Fachärzten - Kommunikation zu den Bewohnern IWM - Möglichkeit zur Reflexion der Handlungsschritte unter den Fachärzten (Fachärzte, ggf. Dr. Freitag) 10. Supervision in den Teams der Wohnbereiche (Dr. Mulkau und Teams der WB) Kommunikation, Reflexion und Beratung zu den Einzelfällen IWM, Austausch zum aktuellen Stand (Teamleitersitzung, Projekttreffen IWM) = Das gesamte Medikamentenreduktionsprogramm ist eng mit einem pädagogi- schen Selbstverständnis der Kommunikationssensibilität und Kommunikations- intensität auf allen Ebenen der Interaktion sowie der Beziehungsaufnahme, Be- ziehungsgestaltung und Beziehungsarbeit verbunden
3. Allgemeine Beobachtungen und deren Einordnung

Die Medikamentenreduktion wurde mit sechs Bewohnerinnen und Bewohnern im Alter zwischen 44 und 55 Jahren September und Oktober 2009 begonnen. Weitere Personen sind jetzt Anfang April diesen Jahres in das Projekt aufge- nommen worden. Zunächst kann gesagt werden, dass viele der Bewohner des RBH, aus der Bezirksnervenklinik Uchtspringe oder dem Krankenhaus Jerichow an das RBH oder wie es vor 1996 hieß, an das Pflegeheim „Ost“ überwiesen wurden. Bewohner, die aus Uchtspringe ins RBH kamen, brachten häufig psy- chopharmakologische Medikamente in der Kombination: Prothazin, Propaphinin, Haloperidol mit. Was die Diagnosen anbelangt, ließ sich feststel- len, dass diese sich zuweilen auch widersprüchlich in den Unterlagen finden las- „Imbezillität und Epilepsie bei familiärer Belastung mit Oligophrenie und Epi- „Körperliche und psychische Retardierung nach frühkindlicher Hirnschädigung „Mittelgradige Oligophrenie bei psycho-sozialer Beeinträchtigung und Verhal- „Frühkindliche Hirnschädigung mit eretischer (unruhiger) Oligophrenie“ Ich habe den Begriff der Oligophrenie absichtlich nicht durch neuere Begriff- lichkeiten gemäß der ICD (Internationale Klassifikation psychischer Störungen 10, Kapitel V) ersetzt, um hier auch zu verdeutlichen, dass viele der aktenkundi- gen Diagnosen in den achtziger Jahren aufgestellt wurden. Bei den sechs Bewohnerinnen und Bewohnern konnte allgemein beobachtet und - eine Erhöhung der Motivations- und Aktivitätsbereitschaft, was sowohl Tagesstrukturierende Angebote, als auch Einzelunternehmungen betrifft - die Steigerung der Aufnahmefähigkeit und der Konzentrationsfähigkeit, So kann sich z.B. Hr. B. den tags zuvor erwähnten Geburtstag eines Mitarbeiters merken und steht am nächsten Morgen vor dem Büro, um ihm zu gratulieren; er kann sich auch merken und er kann selbst artikulieren, dass der Sohn einer Mitarbeiterin in einer Autowerkstatt arbei- - eine Erhöhung der Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit, überhaupt die Bereitschaft und die Häufigkeit, sich mitzuteilen sowie die Steigerung der Frau L., Formulierung vollständiger Sätze und selbstläufiger Erzählpassagen, statt halbsatz- - der Bereitschaft, selbständig Aktivitäten zu entwickeln Hr. X geht in die Stadt, um sein Zeitungsabonnement zu bezahlen, auch fragt er, ob er für andere Mitbewohner Wege erledigen soll, macht täglich seinen Rundgang und schaut nach dem Rechten (u.a. beim benachbarten Theater) - Steigerung des Selbstbewusstseins und des Vertrauens zu sich selbst Anfangsphase bei Fr. A., Widersprechen und Distanzierung von befreundeten, aber auf sie - der Beziehungsfähigkeit, der Zuwachs an Kompetenzen zur Konfliktfähigkeit, Ein Streit zwischen zwei Bewohnerinnen in einer WG kann z.T. auch ohne den Einfluss des Nach starker Erregung schmeißt Hr. B. das Erdbeerkompott vom Mittagessen vom Tisch, nachdem er anschließend vom Personal in sein Zimmer verwiesen wird, kehrt er nach einer viertel Stunde zurück in den WB, er wischt den Fußboden auf und entschuldigt sich später 4. Wenn Fälle berichten…Einige spezielle Beobachtungen.
Kurzporträt I
Grit Schöne
Grit Schöne wird am 17.09.1960 als sechstes von insgesamt sieben Kindern geboren. Das
familiäre und soziale Umfeld muss aus heutiger Sicht als wenig förderlich für die Entwick-
lung Grits eingeschätzt werden. Die aus jener Zeit vorliegenden Entwicklungsberichte schät-
zen die Familienkonstellation als „Milieu gefährdet“ und die Eltern als „erziehungsuntüchtig“
ein.
Grit besucht zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr den Kindergarten. Ihre
Schulerfahrungen begrenzen sich auf einen Zeitraum von insgesamt fünf Jahren (1968 bis
1972). Ein halbes Jahr lebt sie bei den Eltern, wo sie hauptsächlich vom Vater und vom
Großvater betreut wird. Beide männlichen Bezugspersonen schienen aber mit der Betreuung
überfordert gewesen zu sein. Das Zusammenleben schien sich als so schwierig zu gestalten,
dass Grit im Krankenhaus für Neurologie und Psychiatrie B. vorgestellt wurde.
Im Krankenhaus B. wird bei Grit eine „mäßige mittelgradige Oligophrenie bei psycho-
sozialer Beeinträchtigung und hereditärer Belastung“ diagnostiziert. Der stationäre Aufenthalt
beschränkt sich auf die Monate Januar bis Mai 1973. Mit Prothazin-Dragees wird hier eine
erste medikamentöse Therapie eingeleitet.
Mit diesem Psychiatrieaufenthalt beginnt für Grit ein bis in die Gegenwart andauerndes Le-
ben, das von Institutionen bzw. den sozialen Prozessen in Institutionen bestimmt ist, denn mit
der oben erwähnten Diagnose, wird sie zur „weiteren Betreuung und Förderung“ in das Evan-
gelische Kinderheim C. überwiesen. In C. lebt sie bis zu ihrem 30. Lebensjahr. Grit ist in täg-
liche Arbeitsprozesse eingebunden, sie erledigt Reinigungsarbeiten in einer Gaststätte, ist in
einem Schweinestall der LPG beschäftigt. Während der langen Zeit in C. ist sie weiter unre-
gelmäßig in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Das Kinderpflegeheim kann die Fürsor-
geverantwortung für Grit nicht behalten, Begründung: Grit ist für ein Kinderpflegeheim zu
alt.
Im Juli 1990 zieht Grit ins RBH nach Magdeburg. Rückblickend wird ihr ein relativ schwerer
Einstand in das Haus attestiert. Grit soll sich bisweilen extrem selbst- und fremdaggressiv
(Beißen) verhalten haben. Sie soll fast ihr gesamtes Wohnmobiliar zerstört oder aus dem
Fenster geworfen haben. An dieser Stelle kamen dann auch wieder psychopharmakologische
Medikamente zum Einsatz. Zwischenzeitlich arbeitete sie als Reinigungskraft in der Behin-
derteneinrichtung der Pfeiffersche Stiftungen und in einer Wäscherei der Lebenshilfe. Grit hat
im Laufe ihrer biographischen Entwicklung körperliche Veränderungen durchlebt. Während
sie früher, als sie noch regelmäßig gearbeitet und Sport (Schwimmen) getrieben hat, vermut-
lich fit und körperlich belastbar war, hat sie in den letzten Jahren stark an Gewicht zugenom-
men (Körpergewicht 1999 und 2005, ca. 120 kg). Damit einher gehen eine geringere körperli-
Arthroseerscheinungen, aber auch eine sinkende Arbeitsmotivation. Ausgangsmedikation
1. Änderung: Dipiperon 40mg Niedrigpotentes Neuroleptikum, Erregungsdämpfende Wirkung, Affektstabilisierend ab 07.09.09 2. Änderung: Risperdal 0,5mg Anitpsychotisches Neuroleptikum, antiaggressiv wirkend ab 09.11.09 3. Änderung: Garbapentin 400mg Stimmungsstabilisierend ab 21.12.09 Grit wird als eine offene und freundliche Person beschrieben, die jedoch Schwierigkeiten hat, Konflikte alleine zu lösen. Häufig fühlt sich ungerecht be- handelt, auch ist sie nur bedingt kritikfähig. Beim Eintreten von Krisen oder wenn ihr etwas nicht passt, reagiert sie mit lautem Schimpfen und mit Aufbrau- sen; sie führt dann laute und z.T. unsachliche Diskussionen und Selbstgesprä- che. Der Leidensdruck kann sich in akuten Situationen verstärken, wenn man ihr keine Rückzugsmöglichkeiten gewährt. Später kann man mit ihr gut über Kon- flikte sprechen, insbesondere wenn man sich ihr im eins zu eins-Gepräch wid- met. Am Anfang der Reduktion, – begonnen wurde mit Dipiperon –, klagte Grit öfter über Unruhe, auch wurde sie als relativ schnell gereizt wahrgenommen. Daraufhin wurde beschlossen, ihr einmal pro Woche ein individuelles Gespräch anzubieten und ihr damit gezielt Aufmerksamkeit zu schenken. Mitte Oktober hat sich die Unruhe soweit gegeben, häufiger ist sie jetzt anhänglich und will mit Mitarbeiterinnen kuscheln. Vermutet werden hier zunächst mentale Umstel- lungsprobleme, denn zu diesem Zeitpunkt steht bereits fest, dass für Grit bald ein neuer Lebensabschnitt in der Außenwohngruppe beginnt. Einen Monat spä- ter fängt zudem die Arbeit in einer WfB an, wo sie Lampenschirme und später Arbeitsschutzhelme montiert. Die Arbeit macht ihr laut Selbstaussage Spaß; be- obachtet werden konnte, dass sie manchmal fröhlich und singend von der Arbeit zurückkam. Mitte November zieht Grit in die Außenwohngruppe. Den Umzug meistert sie weitgehend problemlos. Erstaunlich ist hier auch, dass sie trotz der gravierenden Veränderungen ihrer Lebenssituation die hohen Arbeitsbelastun- gen in der WfB durchzustehen vermag. Entgegen kommt ihr, dass sie ohnehin eine „Frühaufsteherin“ ist. In der neuen Lebensumgebung gibt es kleinere Kon- flikte, die aber im Grund der Sache einer jeden Lebensumstellung nie ganz aus- bleiben können. Das zeigt sich auch in gelegentlichen Gemütsschwankungen zwischen Zufriedenheit einerseits (Grit ist motiviert, auf die Arbeit zu gehen, sie ist motiviert, selbst einkaufen zu gehen) und Überforderung andererseits (sie ist manchmal nicht in der Lage, dem Gesprächsverlauf in der Gruppe zu folgen, sie verfügt über ein geringeres Kommunikationsspektrum als andere, so z.B. wenn es um eine differenzierte Darstellung dessen geht, was sie am Tag erlebt hat oder wie ihr Arbeitstag aussah). In dieser Zeit, Anfang Dezember, wo bereits das zweite Medikament, Risperidal, ausschleicht, finden fast täglich eins zu eins-Gespräche statt. Grit wird als sehr freundlich wahrgenommen. Am 13. Ja- nuar taucht sie z.B. im RBH auf, umarmt Mitarbeiter der Einrichtung und wünscht ihnen ein gesundes Neues Jahr. Allerdings macht man sich Mitte Feb- ruar einige Sorgen, da Grit seit Neujahrsbeginn ca. 10 kg abgenommen hat, Tendenz steigend. Problem ist, dass sie entweder gar nichts oder höchstens ein Knäckebrot zum Frühstück isst. Das Thema Gewicht ist aber für Grit gewisser- maßen ein Lebensthema, an dem sie sich nun erneut abzuarbeiten scheint. Meh- rere Wochen schleppt sie das Problem mit sich herum. Auffällig ist auch, dass Grit das Gewichtsthema selbst kommuniziert und das z.T. permanent. Über viele Gespräche und der Arbeit an einem positiven Körperselbstbild sowie mit Hilfe eines Ernährungsplanes bekommt Grit auch diese zeitweise auftretende Proble- matik in den Griff. Zufällig oder nicht zufällig, das lässt sich hier nicht sicher bestimmen, fällt diese Problemlösung wenig später in die Zeit, als auch das letz- te Medikament, Garbapentin, Mitte März abgesetzt wird. Soll man das letzte Lebensjahr im Rahmen der Medikamentenreduktion bewerten, so kann durchaus von einem „Glücksfall“ gesprochen werden. Es lässt sich sagen, dass Grit au- ßerordentliche Fortschritte, große Entwicklungssprünge, vor allem im Kontext der Umstellung ihrer Lebensausrichtung und Lebensgestaltung gemacht hat. Sie hat in relativ kurzer Zeit alle psychopharmakologischen Medikamente absetzen können, kleinere oder mittlere Krisen hat sie gut bewältigen können. Die Arbeit in der WfB bereitet ihr nach wie vor Freude, es gibt auch vonseiten der Mitar- beiter in der WfB keine Beanstandungen. In der Wohngruppe ist Grit zuneh- mend kommunikativer geworden. Durch das höhere intellektuelle und sprachli- che Niveau in der AWG hat sie sich einen umfangreicheren Wortschatz und Ausdruck aneignen können. Sie kann sich heute deutlich besser artikulieren und
Kurzporträt II Anja Reinecke

Anja Reinecke wird am 11.10.1954 geboren. Ihre Mutter wird als eine Person beschrieben, die
die Familie, insbesondere Anja und ihren Bruder wesentlich dominiert hat. Ihr Schulabschluss
beläuft sich auf die achte Klasse einer Sonderschule. Anja kann lesen und schreiben, sie kann
sich verhältnismäßig gut ausdrücken und kommunizieren. Beruflich soll sie ca. 15 Jahre als
Hilfsarbeiterin in einer Seifenfabrik tätig gewesen seine.
Bis zur Einweisung ins RBH im September 1991 hat Anja bei den Eltern gelebt. In dieser Zeit
wird sie als verhaltensauffällig beschrieben. Beobachtet wurde, dass sie häufig in Schränke
und Zimmerecken kotete. Ferner zeigte sie verbal aggressive Ausbrüche gegenüber ihrer Mut-
ter. Als der Vater im Frühjahr 1991 einen Herzinfarkt erleidet, ist vermutlich die Belastung
der Familie so groß, dass dies eine Heimeinweisung erforderlich machte.
Nach ihrer Aufnahme in das RBH wird Anja regelmäßig besucht. Als ein halbes Jahr später
der Vater stirbt, werden die Besuche weniger. Die Beziehung zu ihrer Mutter scheint bis heute
ambivalent: So wurde z.B. bekannt, dass Parfüm, Nagellack und z.T. auch Kleidungsstücke,
die vom Personal für Anja gekauft wurden, von der Mutter mit dem Kommentar einbehalten
wurden, dass Anja diese Dinge nicht bräuchte. Hinsichtlich ihres Sozialverhaltens ist auffäl-
lig, dass Anja im RBH häufig Kontakt zu einer, durchaus ihrer Mutter ähnlichen weiblichen
Bezugsperson sucht.
Anja wird zwar als geistig behindert eingeschätzt, in den Dokumentationen lassen sich jedoch
ausschließlich nur psychiatrische Diagnosen finden. Interessant ist dabei, dass drei von der
Klassifizierung unterschiedliche Krankheitsbilder genannt werden. An einer Stelle heißt es:
„Seelisch wesentlich Behinderte gem. § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG wegen folgender seelischer
Behinderung: Neurose oder Persönlichkeitsstörung (§ 3 Nr. 4 Eingliederungs- VO)“. An einer
anderen Stelle wird eine Diagnose vom Sozialpsychiatrischen Dienst aufgeführt, in der Anja
eine „seelische Behinderung infolge schizophrener Erkrankung“ attestiert wird. Angemerkt
werden soll hier aber, dass das zuletzt genannte Krankheitsbild kaum den Wahrnehmungen
bzw. Beobachtungen des Personals am Anfang des Projektes IWM entsprochen hat.
Ausgangsmedikation
1. Änderung: Neurocil Neuroleptikum – Angst- und Spannungslösend ab 07.09.09 2. Änderung: Akineton Behandlung von Bewegungsstörungen 3. Änderung: Carbamazepin Antiepileptikum, Stimmungs- und Affektstabilisierend, aggressive Erregung dämpfend ab 01.01.10 A) - ab dem 24.11.09 wurden die 25mg Neurocil von Abends auf Nacht umgestellt - aufgrund der Vorkommnisse der letzten Wochen, verschrieb Dr. Bernstein am 30.11.09 das Antipsychotikum Risperdal, wie folgt: 1mg wenige Tage später, wurde die Dosis noch erhöht: 2mg B) - ab dem 11.01.10 neue Medikation – wieder eine Erhöhung und Erweiterung, wie folgt: Neurocil zur Nacht wurde von 25mg auf 50mg erhöht, also C) - ab dem 27.01.10 neue Medikation, wie folgt: Neurocil und Riperdal werden ab sofort vollständig abgesetzt, ebenso das Faustan als Dauer-medikation – Faustan nur noch als Bedarfsmedizin - dazu nun Seroquel Stand: Akineton Bei Bedarf: Faustan 2,5 mg Wie alle anderen Bewohner reagiert auch Anja positiv auf die Reduktion ihrer Medikamente. Sie selbst betonte desöfteren, dass sie sich „gut fühlt“. Nach ca. sechs Wochen, in der Reduktionsphase des Neuroleptikums Neurocil, wird fest- gestellt, dass Anjas Selbstbewusstsein gewachsen ist. Häufiger tritt sie auch trot- zig in Erscheinung. Sie lässt andere Bewohner nicht ausreden und fährt Mitar- beitern „über den Mund“. Zu einer relativ dominanten Bewohnerin, die im glei- chen WB lebt, hat sie den engsten Kontakt und sie beginnt, in die „gleiche Ker- be“ zu hauen, wie ihre Freundin. Auch wird sie als aktiver wahrgenommen. Das zeigt sich z.B. beim Spazierengehen, wo sie nicht wie sonst üblich, überredet werden muss. Anja zeigt wesentlich mehr Emotionen als früher, sie setzt sich mit Sachen auseinander und vertritt eigene Standpunkte. Auch entwickelt sie mehr Kooperationsbereitschaft und wie gesagt, Selbstbewusstsein. Letzteres kommt auffallend in einer Distanzierung zu ihrer Freundin zum Ausdruck, die längere Zeit mitunter sehr bestimmend und auch bevormundend auf sie einge- wirkt hat. Als ihre Freundin zum wiederholten Male mit voller Unzufriedenheit meint, sie will aus dem RBH ausziehen, meint Anja z.B. „Geh doch, ich habe dein ewiges Gerede satt“. Am 20.10.09 muss sich Anja einer folgenschweren Operation am Auge unter Vollnarkose unterziehen. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass Anja auf beiden Augen äußerst schlecht sieht, heißt, sie ist fast blind und deshalb auch desöfteren auf fremde Hilfe angewie- sen. Die OP verläuft wunschgemäß und Anja selbst bestätigt auch, dass ihr gut geht. Mit der Rückkehr in das RBH soll sich das jedoch bald ändern und zwar grundlegend: Anfang November beginnt Anja fast täglich nachts aufzuwachen und bittet die Diensthabenden Mitarbeiter, zu schauen, ob – wie selbst sagt – „in ihrem Zimmer alles in Ordnung“ sei. Wenig später gibt sie an, ihr Zimmer wäre mit weißen Schleiern ausgefüllt. Die Mitarbeiter kümmern sich in dieser Zeit intensiver um sie. Auch medikamentös erfolgt eine Umstellung: Die 25mg Neurocil werden jetzt zur Nacht verabreicht, dazu wird das Antipsychotikum Risperdal, zunächst mit 1mg, später mit 2mg verschrieben. Das Absetzen des Neurocils, wie es für den 15.12. geplant war, wird vom zuständigen Facharzt gestoppt. Kurze Zeit stabilisiert sich Anja, doch schon Mitte Dezember ver- schlechtert sich ihr Zustand erneut. Wieder kommt sie nachts und nun auch tagsüber ins Dienstzimmer und fordert z.T. unentwegt Mitarbeiter auf, zu ihr ins Zimmer zu kommen, um sich zu vergewissern, ob dort wirklich auch alles in Ordnung sei, sie sehe weiße Schleier und hätte sich an der Heizung verbrannt. Beides lässt sich von den Mitarbeitern nicht bestätigen. Anjas Zustand fängt jetzt an, sich in dramatischer Weise zu verschlechtern. Z.T. werden nun extreme Wahrnehmungsstörungen und massive Fremdheitserfahrungen wirksam. Anja gibt an, sie hätte Angst vor den Tieren in ihrem Zimmer; sie würde weiße Ele- fanten sehen, Würmer würden aus der Wand kriechen. Ebenso entsetzt gibt sie zu verstehen, an den Händen und am ganzen Körper verbrannt zu sein. Freizeit- angebote lehnt sie jetzt kategorisch ab. Auch zeigt sie andere Verhaltensauffäl- ligkeiten, sie wird gegenüber einem Mitarbeiter verbal und körperlich aggressiv. Das geschieht zu einem Zeitpunkt, Anfang des neuen Jahres, als die Dosis des Neurocils von 25 auf 50mg zur Nacht bereits angehoben und Faustan 2,5mg als beruhigende Medikament, zwei Wochen später als Bedarfsmedikation, angesetzt wurde. Nachdem sich Anjas Zustand nicht bessert, sondern eher noch weiter verschlechtert, werden das Neurocil und das Risperdal abgesetzt und neben Akineton und Carbamazepin, 225mg Seroquel verabreicht. Eine zweite, lange geplante Operation, Anfang Februar, muss aus medizinischen Gründen, aber auch wegen einiger Verhaltensauffälligkeiten, abgesagt werden. Nach drei Ta- gen auf der Augenstation wird Anja entlassen. Einen Tag später, am Samstag, den 06.02.2010, ereignet sich laut Dokumentation folgendes: „Anja war bis halb 4 morgens wach, sie lag zunächst in ihrem Zimmer im Bett, als ob sie schläft, als sie vom Personal angesprochen wurde, erfolgte keinerlei Reaktion, sie war kaum ansprechbar, starrer Blick, wirkte apathisch und hielt die Arme steif nach vorne – daraufhin wurde der Notarzt angerufen; Anja wurde mit dem Rettungshubschrauber mit dem Verdacht auf einen Krampfanfall ins Krankenhaus geflogen – dieser Verdacht stellte sich als haltlos heraus (CT ohne Befund), die Ärzte dort meinte, dass Anja einem Psychiater vorgestellt wer- den sollte (Anja hätte immer wieder davon gesprochen, dass sie schwarz verbrannte Füße hätte); daraufhin wurde Anja auf die Station Akutpsychiatrie verlegt, dort soll sie weiter „ge- wütet“ haben, die Schwestern beschimpft und diese mit ihrem Nachthemd beworfen haben; am Dienstag, den 09.02. wurde Anja wieder aus der Psychiatrie entlassen.“ Am 11.02. wurde von einem Mitarbeiter des Hauses dokumentiert: „Es konnte beobachtet werden, dass Anja ihre Hose nach der WC-Benutzung nicht hochgezo- gen hat. Sie wurde angehalten, ihre Hose hochzuziehen, sie zeigte daraufhin keine Reaktion. Sie reagierte erst, als ich feststellte, dass sie mit heruntergelassener Hose den Geschirrspüler nicht ausräumen kann und ein anderer Bewohner das Amt übernimmt. Gegen 17.30 hat Anja im Flur hingekotet und uriniert. Sie benötigte bei der Körperpflege intensive Hilfestellung. Gegen 19 Uhr uriniert sie ins Zimmer. Das Abendessen lehnte sie ab.“ Am 16.02.10 entscheidet der Facharzt aufgrund der inzwischen deutlich zutage tretenden Hinweise auf die Symptomatik einer Psychose die Einweisung in die Psychiatrie der Stadt D. Zwei Tage später wird Anja ins Krankenhaus gebracht. Nach Aussagen der Mitarbeiter, die sie dort besuchten, haben sich bislang keine wesentlichen gesundheitlichen Besserungen einstellen können. Über Anjas der- zeitige Medikation liegen uns keine Informationen vor. Aus dem Krankenhaus hieß es zuletzt, Anja wäre kaum ansprechbar, sie sei in sich gekehrt, z.T. ver- wirrt, sie würde Stimmen hören und würde hin und wieder verbal aggressiv ge- genüber dem Klinikpersonal auftreten. Bis heute ist Anja im Krankenhaus D. in Im Projektteam wurde über diesen Fallverlauf nachgedacht: Drei Punkte, die vielleicht nicht hinreichend berücksichtigt worden sind, seien 1. Eine evt. unzureichende Vorbereitung, auch hinsichtlich eines Krisenplanes zur Bewältigung von leichteren Krisen bis hin zu Akutsituationen 2. Die in Betracht zu ziehende Möglichkeit, dass Anja mit der Kombination ih- rer Ursprungsmedikation durchaus gut eingestellt gewesen sein könnte 3. Und vor allem, die zeitliche Überschneidung der 1. Reduktionsphase, der Re- duzierung des Neurocils, mit der bevorstehenden Augenoperation und deren Folgen auch auf das gesamte Wahrnehmungs- und Empfindungssystem der Per- Abschließende Bewertungen
Insgesamt, so kann man an dieser Stelle sagen, ist der Projektverlauf als positiv einzuschätzen. Bei fünf Bewohnern konnten gute, bisweilen nicht zu erwartende Entwicklungen beobachtet werden. Der zuletzt dargestellte Fall der Anja Reine- cke bildet bislang die einzige Ausnahme, und es besteht die Hoffnung, dass dies auch so bleibt. Diese Ausnahme hat das Projektteam maßgeblich sensibilisiert, bei der einen oder dem anderen sind sicher auch einige Zweifel entstanden, auf die im nachfolgenden Vortrag vermutlich näher eingegangen werden kann. Im Rahmen der Reflexionen zum Projekt wurde bspw. der Ablaufplan zur Medika- mentenreduktion zeitlich gestreckt. Auch wurden die einzelnen Reduktionspha- sen gedehnt. In den Wohnbereichsteams gibt es regelmäßige Supervisionen, die Kommunikation zu den Projektteilnehmerinnen wurde im gesamten Team und den Fachärzten intensiviert. Andere, nachfolgende Projektteilnehmern werden uns weiteren Aufschluss und weitere differenzierte Erkenntnisse über die Medi- kamentenreduktion im Rahmen des Projektes liefern. Haben Sie herzlichen Es folgen die Folien!

1. Aufgaben und Methoden der Wissenschaftlichen Begleitung
2. Vorstellung des Ablaufplanes zur Medikamentenreduktion
3. Allgemeine Beobachtungen und deren Einordnung
4. Wenn Fälle berichten…
Einige spezielle Beobachtungen

Kurzporträt I
Grit Schöne
Kurzporträt II
Anja Reinecke
5. Reflexion und Ausblick



Daten erheben (1)
Codieren, Auswerten (3)
Daten dokumentieren (2)

1. Psychosoziales Verhalten
2. Körperlicher Bereich und Motorik
3. Intellektuelle Fähigkeiten
4. Selbständigkeit und eigene Aktivitäten


Herangehensweise an den Ablaufplan zur Medikamentenreduktion

1. Teilnehmervorschläge aus den Teams an die Heimleitung
2. Festlegung der Teilnehmer durch die Heimleitung und Vorschläge dergleichen an die Fach-
ärzte
3. Check-up zur aktuellen Situation der Bewohnerin/des Bewohners durch die Fachärzte, Di-
agnostik und weitere Untersuchungen, Abstimmungen, FÄ geben `grünes Licht´ und entwi-
ckeln die Reduktionspläne
- Zeitlicher Puffer, drei bis vier Wochen - 4a) In dieser Zeit erfolgen die Fallkonferenzen; hier auch die Erstellung des Krisenplanes 4b) Abstimmung der Fachärzte untereinander 5. Offizieller Beginn der Medikamentenreduktion 6. Kontrolle und Anpassung des Reduktionsplanens an die aktuelle Situation 7. Sammlung der Daten und Absprachen in den einzelnen Wohnbereichen 8a) Besprechung und Reflexion der Einzelfälle in den Teams 8b) Erstellung von Beobachtungsbögen zu den Einzelfällen 9. Monatliche Konsultationen zum Projekt IWM mit den Fachärzten 10. Supervision in den Teams der Wohnbereiche sowie Kommunikation, Reflexion und Bera-tung zu den Einzelfällen IWM in Wohnbereichs- und Teamleitersitzungen
Fall I: Grit Schöne

Ausgangsmedikation
1. Änderung: Dipiperon 40mg ab 07.09.09 2. Änderung: Risperdal 0,5mg ab 09.11.09 3. Änderung: Garbapentin 400mg ab 21.12.09

Fall II: Anja Reinecke

Ausgangsmedikation
1. Änderung: Neurocil 25mg ab 07.09.09 2. Änderung: Akineton (Reduktion parallel zum Neurocil) ab 07.09.09 3. Änderung: Carbamazepin 200mg ab 01.01.10

Source: http://ichwillmich.de/files/vortrag_leuchte_11-05-10.pdf

参考文献

1 Webster R G, Bean W J, Gorman O T, et al. Evolution and ecology of influenza A viruses. Microbiol Rev, 1992, 56: 152—179 2 Peiris J S, de J, Guan Y. Avian influenza virus (H5N1): a threat to human health. Clin Microbiol Rev, 2007, 20: 243—2673 Kumar S, Tamura K, Jakobsen I B, et al. MEGA2: Molecular evolutionary genetics analysis software. Bioinformatics, 2001, 17: 1244—4 Thompson J D, Hi

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June 28, 2010 VENUS REMEDIES ENTERS AUSTRALASIA REGION WITH GRANT OF PATENT FOR POTENTOX FROM NEW ZEALAND Venus Remedies has marked its presence in the region of Australasia by receiving a patent from Commissioner of Patents , Trademarks & Design, Intellectual Property office of New Zealand for its antibiotic Potentox, a fixed dose combination of cefepime and amikacin. This unique

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