Vortrag der Wissenschaftlichen Begleitung im Rahmen der Fachkonferenz zum Projekt „Ich will mich“, am 11. Mai 2010 in Magdeburg
(Aufsatz erscheint demnächst in: Kulig & Schibort & Schubert (2010) Verlag Kohlhammer)
Sehr verehrtes Fachpublikum, sehr verehrte Damen und Herren,
als Mitarbeiter der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes IWM möchte
ich Ihnen einige Zwischenergebnisse des ersten Jahres präsentieren:
Zunächst kurz zum Inhalt meines Vortrags:
1. Aufgaben und Methoden der Wissenschaftlichen Begleitung 2. Vorstellung des Ablaufplanes zur Medikamentenreduktion 3. Einige allgemeine Beobachtungen und deren Einordnung 4. Wenn Fälle berichten… Einige spezielle Beobachtungen
5. Reflexion und Ausblick 1. Aufgaben und Methoden der Wissenschaftlichen Begleitung
Die zentrale Aufgabe der Wissenschaftlichen Begleitung besteht darin, mögliche
Persönlichkeits- und Verhaltensveränderungen, wie sie mit der Reduktion von
psychopharmakologischen Medikamenten bei unseren Bewohnern einhergehen
können, zu dokumentieren und zu untersuchen. Auf der Grundlage einer kon-
trollierten Einzelfallforschung, genauer der Teilnehmenden Beobachtung, der
Bewohner- und der gezielten Mitarbeiterbefragung wird versucht, ein umfassen-
des Bild der individuellen Entwicklungen zu zeichnen. Aufgabe ist es ferner,
möglichst unvoreingenommen und ergebnisoffen an die Fragen der Medikamen-
tenreduktion heranzutreten und vor diesem Hintergrund begründet sich auch die
Herangehensweise. Es geht um individualgeschichtliche Verläufe, um Entwick-
lungs- und Veränderungsprozesse, die, weil sie im Alltag der Bewohner prak-
tisch und symbolisch zutage treten, auch nur dort aufspürbar sind. Dem entspre-
chend, so eine weitere Säule des methodischen Vorgehens, sind Datenerhebung,
Datenaufbereitung und Datenauswertung in einem fortlaufenden zirkulären
Daten erheben (1) Codieren, Auswerten (3) Daten dokumentieren (2)
Am Ende der Datenauswertung sollen Fallporträts in Form von handhabbaren
„dichten Beschreibungen“ (C. Geertz) erarbeitet werden, die imstande sind, den
gesamten sozialen und biographischen Entwicklungsprozess im Rahmen des
Reduktionsprogramms einzufangen und nachzuzeichnen.
Im Mittelpunkt des Interessens stehen dabei folgende Fragebereiche:
1. Psychosoziales Verhalten Welche Veränderungen im Verhalten sind aufgefallen? Wie integriert sich die Bewohnerin/der Bewohner im WB? 2. Körperlicher Bereich und Motorik Welche körperlichen und motorischen Veränderungen sind aufgefallen? 3. Intellektuelle Fähigkeiten Welche intellektuellen Fähigkeiten haben sich in der letzten Zeit positiv entwi- ckelt? 4. Selbständigkeit und eigene Aktivitäten Welche Eigenaktivitäten zeigt die Person? Ist die Person selbstständiger gewor- den?
Zum Verständnis und zur Vorgehensweise möchte ich Ihnen zunächst den Ab- laufplan zur Medikamentenreduktion vorstellen: 2. Vorstellung des Ablaufplanes zur Medikamentenreduktion
Wir selbst mussten mit Beginn des Projektes lernen, die Erfahrungen des Heran- gehens in einen Auswertungs- und Reflexionsrahmen zu bringen Dieser erlaubte es schließlich, einen präziseren Ablaufplan mit konkreten Schritten und perso- nellen Verantwortlichkeiten festzulegen
= Der Ablaufplan steht nicht als starres Gebilde, sondern passt sich den reflek-
tierten Erfahrungen bzw. der Bewährbarkeit im Umgang mit dem Ablaufplan
1. Teilnehmervorschläge aus den Teams an die Heimleitung (Teams der WB) 2. Festlegung der Teilnehmer durch die Heimleitung und Vorschläge derglei-chen an die Fachärzte (Heimleitung) 3. Check-up zur aktuellen Situation des Bewohners durch die Fachärzte, Diag-nose und weitere Untersuchungen, Abstimmungen, FÄ geben `grünes Licht´ und entwickeln die Reduktionspläne (Fachärzte)
- Drei bis vier Wochen wird Zeit gegeben! -
4a) In dieser Zeit erfolgen die Fallkonferenzen mit Dr. Freitag; hier auch die Er-stellung des Krisenplanes (Teams der WB und Pädagogische Leitung) 4b) Parallel dazu bekommen die Fachärzte die Möglichkeit, sich untereinander abzustimmen (Fachärzte, Dr. Freitag) 5. Offizieller Beginn der Medikamentenreduktion der neuen Teilnehmer (Teams der WB) 6. Enge Kontrolle und Anpassung des Reduktionsplanens an die aktuelle Situa-tion; jeder neue Reduktionsschritt wird mit der Pädagogischen Leitung und der Wis-senschaftlichen Begleitung kommuniziert (Teamleitung) 7. Sammlung der Daten und Absprachen in den einzelnen Wohnbereichen
8a) Besprechung und Reflexion der Einzelfälle in den Teams – 14-tägig (Teams der WB) 8b) Erstellung der Beobachtungsbögen zu den Einzelfällen – jeweils am Ende des laufenden Monats; Datei per Mail an die Heimleitung (Teamleitung) Weiterleitung der Beobachtungsbögen am Ende des Monats an die Wissen-schaftliche Begleitung per Sammelmail (Heimleitung) 9. Monatliche Konsultationen zum Projekt IWM mit den Fachärzten - Kommunikation zu den Bewohnern IWM - Möglichkeit zur Reflexion der Handlungsschritte unter den Fachärzten (Fachärzte, ggf. Dr. Freitag) 10. Supervision in den Teams der Wohnbereiche (Dr. Mulkau und Teams der WB) Kommunikation, Reflexion und Beratung zu den Einzelfällen IWM, Austausch zum aktuellen Stand (Teamleitersitzung, Projekttreffen IWM)
= Das gesamte Medikamentenreduktionsprogramm ist eng mit einem pädagogi-
schen Selbstverständnis der Kommunikationssensibilität und Kommunikations-
intensität auf allen Ebenen der Interaktion sowie der Beziehungsaufnahme, Be-
ziehungsgestaltung und Beziehungsarbeit verbunden
3. Allgemeine Beobachtungen und deren Einordnung
Die Medikamentenreduktion wurde mit sechs Bewohnerinnen und Bewohnern
im Alter zwischen 44 und 55 Jahren September und Oktober 2009 begonnen.
Weitere Personen sind jetzt Anfang April diesen Jahres in das Projekt aufge-
nommen worden. Zunächst kann gesagt werden, dass viele der Bewohner des
RBH, aus der Bezirksnervenklinik Uchtspringe oder dem Krankenhaus Jerichow
an das RBH oder wie es vor 1996 hieß, an das Pflegeheim „Ost“ überwiesen
wurden. Bewohner, die aus Uchtspringe ins RBH kamen, brachten häufig psy-
chopharmakologische Medikamente in der Kombination: Prothazin,
Propaphinin, Haloperidol mit. Was die Diagnosen anbelangt, ließ sich feststel-
len, dass diese sich zuweilen auch widersprüchlich in den Unterlagen finden las-
„Imbezillität und Epilepsie bei familiärer Belastung mit Oligophrenie und Epi-
„Körperliche und psychische Retardierung nach frühkindlicher Hirnschädigung
„Mittelgradige Oligophrenie bei psycho-sozialer Beeinträchtigung und Verhal-
„Frühkindliche Hirnschädigung mit eretischer (unruhiger) Oligophrenie“
Ich habe den Begriff der Oligophrenie absichtlich nicht durch neuere Begriff-
lichkeiten gemäß der ICD (Internationale Klassifikation psychischer Störungen
10, Kapitel V) ersetzt, um hier auch zu verdeutlichen, dass viele der aktenkundi-
gen Diagnosen in den achtziger Jahren aufgestellt wurden.
Bei den sechs Bewohnerinnen und Bewohnern konnte allgemein beobachtet und
- eine Erhöhung der Motivations- und Aktivitätsbereitschaft,
was sowohl Tagesstrukturierende Angebote, als auch Einzelunternehmungen betrifft
- die Steigerung der Aufnahmefähigkeit und der Konzentrationsfähigkeit,
So kann sich z.B. Hr. B. den tags zuvor erwähnten Geburtstag eines Mitarbeiters merken und
steht am nächsten Morgen vor dem Büro, um ihm zu gratulieren; er kann sich auch merken
und er kann selbst artikulieren, dass der Sohn einer Mitarbeiterin in einer Autowerkstatt arbei-
- eine Erhöhung der Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit, überhaupt die
Bereitschaft und die Häufigkeit, sich mitzuteilen sowie die Steigerung der
Frau L., Formulierung vollständiger Sätze und selbstläufiger Erzählpassagen, statt halbsatz-
- der Bereitschaft, selbständig Aktivitäten zu entwickeln
Hr. X geht in die Stadt, um sein Zeitungsabonnement zu bezahlen, auch fragt er, ob er für
andere Mitbewohner Wege erledigen soll, macht täglich seinen Rundgang und schaut nach
dem Rechten (u.a. beim benachbarten Theater)
- Steigerung des Selbstbewusstseins und des Vertrauens zu sich selbst
Anfangsphase bei Fr. A., Widersprechen und Distanzierung von befreundeten, aber auf sie
- der Beziehungsfähigkeit, der Zuwachs an Kompetenzen zur Konfliktfähigkeit,
Ein Streit zwischen zwei Bewohnerinnen in einer WG kann z.T. auch ohne den Einfluss des
Nach starker Erregung schmeißt Hr. B. das Erdbeerkompott vom Mittagessen vom Tisch,
nachdem er anschließend vom Personal in sein Zimmer verwiesen wird, kehrt er nach einer
viertel Stunde zurück in den WB, er wischt den Fußboden auf und entschuldigt sich später
4. Wenn Fälle berichten…Einige spezielle Beobachtungen. Kurzporträt I Grit Schöne Grit Schöne wird am 17.09.1960 als sechstes von insgesamt sieben Kindern geboren. Das familiäre und soziale Umfeld muss aus heutiger Sicht als wenig förderlich für die Entwick- lung Grits eingeschätzt werden. Die aus jener Zeit vorliegenden Entwicklungsberichte schät- zen die Familienkonstellation als „Milieu gefährdet“ und die Eltern als „erziehungsuntüchtig“ ein. Grit besucht zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr den Kindergarten. Ihre Schulerfahrungen begrenzen sich auf einen Zeitraum von insgesamt fünf Jahren (1968 bis 1972). Ein halbes Jahr lebt sie bei den Eltern, wo sie hauptsächlich vom Vater und vom Großvater betreut wird. Beide männlichen Bezugspersonen schienen aber mit der Betreuung überfordert gewesen zu sein. Das Zusammenleben schien sich als so schwierig zu gestalten, dass Grit im Krankenhaus für Neurologie und Psychiatrie B. vorgestellt wurde. Im Krankenhaus B. wird bei Grit eine „mäßige mittelgradige Oligophrenie bei psycho- sozialer Beeinträchtigung und hereditärer Belastung“ diagnostiziert. Der stationäre Aufenthalt beschränkt sich auf die Monate Januar bis Mai 1973. Mit Prothazin-Dragees wird hier eine erste medikamentöse Therapie eingeleitet. Mit diesem Psychiatrieaufenthalt beginnt für Grit ein bis in die Gegenwart andauerndes Le- ben, das von Institutionen bzw. den sozialen Prozessen in Institutionen bestimmt ist, denn mit der oben erwähnten Diagnose, wird sie zur „weiteren Betreuung und Förderung“ in das Evan- gelische Kinderheim C. überwiesen. In C. lebt sie bis zu ihrem 30. Lebensjahr. Grit ist in täg- liche Arbeitsprozesse eingebunden, sie erledigt Reinigungsarbeiten in einer Gaststätte, ist in einem Schweinestall der LPG beschäftigt. Während der langen Zeit in C. ist sie weiter unre- gelmäßig in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Das Kinderpflegeheim kann die Fürsor- geverantwortung für Grit nicht behalten, Begründung: Grit ist für ein Kinderpflegeheim zu alt. Im Juli 1990 zieht Grit ins RBH nach Magdeburg. Rückblickend wird ihr ein relativ schwerer Einstand in das Haus attestiert. Grit soll sich bisweilen extrem selbst- und fremdaggressiv (Beißen) verhalten haben. Sie soll fast ihr gesamtes Wohnmobiliar zerstört oder aus dem Fenster geworfen haben. An dieser Stelle kamen dann auch wieder psychopharmakologische Medikamente zum Einsatz. Zwischenzeitlich arbeitete sie als Reinigungskraft in der Behin- derteneinrichtung der Pfeiffersche Stiftungen und in einer Wäscherei der Lebenshilfe. Grit hat im Laufe ihrer biographischen Entwicklung körperliche Veränderungen durchlebt. Während sie früher, als sie noch regelmäßig gearbeitet und Sport (Schwimmen) getrieben hat, vermut- lich fit und körperlich belastbar war, hat sie in den letzten Jahren stark an Gewicht zugenom- men (Körpergewicht 1999 und 2005, ca. 120 kg). Damit einher gehen eine geringere körperli-
Arthroseerscheinungen, aber auch eine sinkende Arbeitsmotivation.
Ausgangsmedikation 1. Änderung: Dipiperon 40mg Niedrigpotentes Neuroleptikum, Erregungsdämpfende Wirkung, Affektstabilisierend ab 07.09.09
2. Änderung: Risperdal 0,5mg Anitpsychotisches Neuroleptikum, antiaggressiv wirkend ab 09.11.09
3. Änderung: Garbapentin 400mg Stimmungsstabilisierend ab 21.12.09
Grit wird als eine offene und freundliche Person beschrieben, die jedoch
Schwierigkeiten hat, Konflikte alleine zu lösen. Häufig fühlt sich ungerecht be-
handelt, auch ist sie nur bedingt kritikfähig. Beim Eintreten von Krisen oder
wenn ihr etwas nicht passt, reagiert sie mit lautem Schimpfen und mit Aufbrau-
sen; sie führt dann laute und z.T. unsachliche Diskussionen und Selbstgesprä-
che. Der Leidensdruck kann sich in akuten Situationen verstärken, wenn man ihr
keine Rückzugsmöglichkeiten gewährt. Später kann man mit ihr gut über Kon-
flikte sprechen, insbesondere wenn man sich ihr im eins zu eins-Gepräch wid-
met. Am Anfang der Reduktion, – begonnen wurde mit Dipiperon –, klagte Grit
öfter über Unruhe, auch wurde sie als relativ schnell gereizt wahrgenommen.
Daraufhin wurde beschlossen, ihr einmal pro Woche ein individuelles Gespräch
anzubieten und ihr damit gezielt Aufmerksamkeit zu schenken. Mitte Oktober
hat sich die Unruhe soweit gegeben, häufiger ist sie jetzt anhänglich und will mit
Mitarbeiterinnen kuscheln. Vermutet werden hier zunächst mentale Umstel-
lungsprobleme, denn zu diesem Zeitpunkt steht bereits fest, dass für Grit bald
ein neuer Lebensabschnitt in der Außenwohngruppe beginnt. Einen Monat spä-
ter fängt zudem die Arbeit in einer WfB an, wo sie Lampenschirme und später
Arbeitsschutzhelme montiert. Die Arbeit macht ihr laut Selbstaussage Spaß; be-
obachtet werden konnte, dass sie manchmal fröhlich und singend von der Arbeit
zurückkam. Mitte November zieht Grit in die Außenwohngruppe. Den Umzug
meistert sie weitgehend problemlos. Erstaunlich ist hier auch, dass sie trotz der
gravierenden Veränderungen ihrer Lebenssituation die hohen Arbeitsbelastun-
gen in der WfB durchzustehen vermag. Entgegen kommt ihr, dass sie ohnehin
eine „Frühaufsteherin“ ist. In der neuen Lebensumgebung gibt es kleinere Kon-
flikte, die aber im Grund der Sache einer jeden Lebensumstellung nie ganz aus-
bleiben können. Das zeigt sich auch in gelegentlichen Gemütsschwankungen
zwischen Zufriedenheit einerseits (Grit ist motiviert, auf die Arbeit zu gehen, sie
ist motiviert, selbst einkaufen zu gehen) und Überforderung andererseits (sie ist
manchmal nicht in der Lage, dem Gesprächsverlauf in der Gruppe zu folgen, sie
verfügt über ein geringeres Kommunikationsspektrum als andere, so z.B. wenn
es um eine differenzierte Darstellung dessen geht, was sie am Tag erlebt hat
oder wie ihr Arbeitstag aussah). In dieser Zeit, Anfang Dezember, wo bereits
das zweite Medikament, Risperidal, ausschleicht, finden fast täglich eins zu
eins-Gespräche statt. Grit wird als sehr freundlich wahrgenommen. Am 13. Ja-
nuar taucht sie z.B. im RBH auf, umarmt Mitarbeiter der Einrichtung und
wünscht ihnen ein gesundes Neues Jahr. Allerdings macht man sich Mitte Feb-
ruar einige Sorgen, da Grit seit Neujahrsbeginn ca. 10 kg abgenommen hat,
Tendenz steigend. Problem ist, dass sie entweder gar nichts oder höchstens ein
Knäckebrot zum Frühstück isst. Das Thema Gewicht ist aber für Grit gewisser-
maßen ein Lebensthema, an dem sie sich nun erneut abzuarbeiten scheint. Meh-
rere Wochen schleppt sie das Problem mit sich herum. Auffällig ist auch, dass
Grit das Gewichtsthema selbst kommuniziert und das z.T. permanent. Über viele
Gespräche und der Arbeit an einem positiven Körperselbstbild sowie mit Hilfe
eines Ernährungsplanes bekommt Grit auch diese zeitweise auftretende Proble-
matik in den Griff. Zufällig oder nicht zufällig, das lässt sich hier nicht sicher
bestimmen, fällt diese Problemlösung wenig später in die Zeit, als auch das letz-
te Medikament, Garbapentin, Mitte März abgesetzt wird. Soll man das letzte
Lebensjahr im Rahmen der Medikamentenreduktion bewerten, so kann durchaus
von einem „Glücksfall“ gesprochen werden. Es lässt sich sagen, dass Grit au-
ßerordentliche Fortschritte, große Entwicklungssprünge, vor allem im Kontext
der Umstellung ihrer Lebensausrichtung und Lebensgestaltung gemacht hat. Sie
hat in relativ kurzer Zeit alle psychopharmakologischen Medikamente absetzen
können, kleinere oder mittlere Krisen hat sie gut bewältigen können. Die Arbeit
in der WfB bereitet ihr nach wie vor Freude, es gibt auch vonseiten der Mitar-
beiter in der WfB keine Beanstandungen. In der Wohngruppe ist Grit zuneh-
mend kommunikativer geworden. Durch das höhere intellektuelle und sprachli-
che Niveau in der AWG hat sie sich einen umfangreicheren Wortschatz und
Ausdruck aneignen können. Sie kann sich heute deutlich besser artikulieren und
Kurzporträt II Anja Reinecke
Anja Reinecke wird am 11.10.1954 geboren. Ihre Mutter wird als eine Person beschrieben, die die Familie, insbesondere Anja und ihren Bruder wesentlich dominiert hat. Ihr Schulabschluss beläuft sich auf die achte Klasse einer Sonderschule. Anja kann lesen und schreiben, sie kann sich verhältnismäßig gut ausdrücken und kommunizieren. Beruflich soll sie ca. 15 Jahre als Hilfsarbeiterin in einer Seifenfabrik tätig gewesen seine. Bis zur Einweisung ins RBH im September 1991 hat Anja bei den Eltern gelebt. In dieser Zeit wird sie als verhaltensauffällig beschrieben. Beobachtet wurde, dass sie häufig in Schränke und Zimmerecken kotete. Ferner zeigte sie verbal aggressive Ausbrüche gegenüber ihrer Mut- ter. Als der Vater im Frühjahr 1991 einen Herzinfarkt erleidet, ist vermutlich die Belastung der Familie so groß, dass dies eine Heimeinweisung erforderlich machte. Nach ihrer Aufnahme in das RBH wird Anja regelmäßig besucht. Als ein halbes Jahr später der Vater stirbt, werden die Besuche weniger. Die Beziehung zu ihrer Mutter scheint bis heute ambivalent: So wurde z.B. bekannt, dass Parfüm, Nagellack und z.T. auch Kleidungsstücke, die vom Personal für Anja gekauft wurden, von der Mutter mit dem Kommentar einbehalten wurden, dass Anja diese Dinge nicht bräuchte. Hinsichtlich ihres Sozialverhaltens ist auffäl- lig, dass Anja im RBH häufig Kontakt zu einer, durchaus ihrer Mutter ähnlichen weiblichen Bezugsperson sucht. Anja wird zwar als geistig behindert eingeschätzt, in den Dokumentationen lassen sich jedoch ausschließlich nur psychiatrische Diagnosen finden. Interessant ist dabei, dass drei von der Klassifizierung unterschiedliche Krankheitsbilder genannt werden. An einer Stelle heißt es: „Seelisch wesentlich Behinderte gem. § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG wegen folgender seelischer Behinderung: Neurose oder Persönlichkeitsstörung (§ 3 Nr. 4 Eingliederungs- VO)“. An einer anderen Stelle wird eine Diagnose vom Sozialpsychiatrischen Dienst aufgeführt, in der Anja eine „seelische Behinderung infolge schizophrener Erkrankung“ attestiert wird. Angemerkt werden soll hier aber, dass das zuletzt genannte Krankheitsbild kaum den Wahrnehmungen bzw. Beobachtungen des Personals am Anfang des Projektes IWM entsprochen hat. Ausgangsmedikation 1. Änderung: Neurocil Neuroleptikum – Angst- und Spannungslösend ab 07.09.09
2. Änderung: Akineton Behandlung von Bewegungsstörungen 3. Änderung: Carbamazepin Antiepileptikum, Stimmungs- und Affektstabilisierend, aggressive Erregung dämpfend ab 01.01.10
A) - ab dem 24.11.09 wurden die 25mg Neurocil von Abends auf Nacht umgestellt - aufgrund der Vorkommnisse der letzten Wochen, verschrieb Dr. Bernstein am 30.11.09 das Antipsychotikum Risperdal, wie folgt: 1mg
wenige Tage später, wurde die Dosis noch erhöht: 2mg
B) - ab dem 11.01.10 neue Medikation – wieder eine Erhöhung und Erweiterung, wie folgt: Neurocil zur Nacht wurde von 25mg auf 50mg erhöht, also
C) - ab dem 27.01.10 neue Medikation, wie folgt: Neurocil und Riperdal werden ab sofort vollständig abgesetzt, ebenso das Faustan als Dauer-medikation – Faustan nur noch als Bedarfsmedizin - dazu nun Seroquel Stand: Akineton
Bei Bedarf: Faustan 2,5 mg Wie alle anderen Bewohner reagiert auch Anja positiv auf die Reduktion ihrer
Medikamente. Sie selbst betonte desöfteren, dass sie sich „gut fühlt“. Nach ca.
sechs Wochen, in der Reduktionsphase des Neuroleptikums Neurocil, wird fest-
gestellt, dass Anjas Selbstbewusstsein gewachsen ist. Häufiger tritt sie auch trot-
zig in Erscheinung. Sie lässt andere Bewohner nicht ausreden und fährt Mitar-
beitern „über den Mund“. Zu einer relativ dominanten Bewohnerin, die im glei-
chen WB lebt, hat sie den engsten Kontakt und sie beginnt, in die „gleiche Ker-
be“ zu hauen, wie ihre Freundin. Auch wird sie als aktiver wahrgenommen. Das
zeigt sich z.B. beim Spazierengehen, wo sie nicht wie sonst üblich, überredet
werden muss. Anja zeigt wesentlich mehr Emotionen als früher, sie setzt sich
mit Sachen auseinander und vertritt eigene Standpunkte. Auch entwickelt sie
mehr Kooperationsbereitschaft und wie gesagt, Selbstbewusstsein. Letzteres
kommt auffallend in einer Distanzierung zu ihrer Freundin zum Ausdruck, die
längere Zeit mitunter sehr bestimmend und auch bevormundend auf sie einge-
wirkt hat. Als ihre Freundin zum wiederholten Male mit voller Unzufriedenheit
meint, sie will aus dem RBH ausziehen, meint Anja z.B. „Geh doch, ich habe
dein ewiges Gerede satt“. Am 20.10.09 muss sich Anja einer folgenschweren
Operation am Auge unter Vollnarkose unterziehen. In diesem Zusammenhang
darf nicht unerwähnt bleiben, dass Anja auf beiden Augen äußerst schlecht sieht,
heißt, sie ist fast blind und deshalb auch desöfteren auf fremde Hilfe angewie-
sen. Die OP verläuft wunschgemäß und Anja selbst bestätigt auch, dass ihr gut
geht. Mit der Rückkehr in das RBH soll sich das jedoch bald ändern und zwar
grundlegend: Anfang November beginnt Anja fast täglich nachts aufzuwachen
und bittet die Diensthabenden Mitarbeiter, zu schauen, ob – wie selbst sagt – „in
ihrem Zimmer alles in Ordnung“ sei. Wenig später gibt sie an, ihr Zimmer wäre
mit weißen Schleiern ausgefüllt. Die Mitarbeiter kümmern sich in dieser Zeit
intensiver um sie. Auch medikamentös erfolgt eine Umstellung: Die 25mg
Neurocil werden jetzt zur Nacht verabreicht, dazu wird das Antipsychotikum
Risperdal, zunächst mit 1mg, später mit 2mg verschrieben. Das Absetzen des
Neurocils, wie es für den 15.12. geplant war, wird vom zuständigen Facharzt
gestoppt. Kurze Zeit stabilisiert sich Anja, doch schon Mitte Dezember ver-
schlechtert sich ihr Zustand erneut. Wieder kommt sie nachts und nun auch
tagsüber ins Dienstzimmer und fordert z.T. unentwegt Mitarbeiter auf, zu ihr ins
Zimmer zu kommen, um sich zu vergewissern, ob dort wirklich auch alles in
Ordnung sei, sie sehe weiße Schleier und hätte sich an der Heizung verbrannt.
Beides lässt sich von den Mitarbeitern nicht bestätigen. Anjas Zustand fängt
jetzt an, sich in dramatischer Weise zu verschlechtern. Z.T. werden nun extreme
Wahrnehmungsstörungen und massive Fremdheitserfahrungen wirksam. Anja
gibt an, sie hätte Angst vor den Tieren in ihrem Zimmer; sie würde weiße Ele-
fanten sehen, Würmer würden aus der Wand kriechen. Ebenso entsetzt gibt sie
zu verstehen, an den Händen und am ganzen Körper verbrannt zu sein. Freizeit-
angebote lehnt sie jetzt kategorisch ab. Auch zeigt sie andere Verhaltensauffäl-
ligkeiten, sie wird gegenüber einem Mitarbeiter verbal und körperlich aggressiv.
Das geschieht zu einem Zeitpunkt, Anfang des neuen Jahres, als die Dosis des
Neurocils von 25 auf 50mg zur Nacht bereits angehoben und Faustan 2,5mg als
beruhigende Medikament, zwei Wochen später als Bedarfsmedikation, angesetzt
wurde. Nachdem sich Anjas Zustand nicht bessert, sondern eher noch weiter
verschlechtert, werden das Neurocil und das Risperdal abgesetzt und neben
Akineton und Carbamazepin, 225mg Seroquel verabreicht. Eine zweite, lange
geplante Operation, Anfang Februar, muss aus medizinischen Gründen, aber
auch wegen einiger Verhaltensauffälligkeiten, abgesagt werden. Nach drei Ta-
gen auf der Augenstation wird Anja entlassen. Einen Tag später, am Samstag,
den 06.02.2010, ereignet sich laut Dokumentation folgendes:
„Anja war bis halb 4 morgens wach, sie lag zunächst in ihrem Zimmer im Bett, als ob sie
schläft, als sie vom Personal angesprochen wurde, erfolgte keinerlei Reaktion, sie war kaum
ansprechbar, starrer Blick, wirkte apathisch und hielt die Arme steif nach vorne – daraufhin
wurde der Notarzt angerufen; Anja wurde mit dem Rettungshubschrauber mit dem Verdacht
auf einen Krampfanfall ins Krankenhaus geflogen – dieser Verdacht stellte sich als haltlos
heraus (CT ohne Befund), die Ärzte dort meinte, dass Anja einem Psychiater vorgestellt wer-
den sollte (Anja hätte immer wieder davon gesprochen, dass sie schwarz verbrannte Füße
hätte); daraufhin wurde Anja auf die Station Akutpsychiatrie verlegt, dort soll sie weiter „ge-
wütet“ haben, die Schwestern beschimpft und diese mit ihrem Nachthemd beworfen haben;
am Dienstag, den 09.02. wurde Anja wieder aus der Psychiatrie entlassen.“
Am 11.02. wurde von einem Mitarbeiter des Hauses dokumentiert:
„Es konnte beobachtet werden, dass Anja ihre Hose nach der WC-Benutzung nicht hochgezo-
gen hat. Sie wurde angehalten, ihre Hose hochzuziehen, sie zeigte daraufhin keine Reaktion.
Sie reagierte erst, als ich feststellte, dass sie mit heruntergelassener Hose den Geschirrspüler
nicht ausräumen kann und ein anderer Bewohner das Amt übernimmt. Gegen 17.30 hat Anja
im Flur hingekotet und uriniert. Sie benötigte bei der Körperpflege intensive Hilfestellung.
Gegen 19 Uhr uriniert sie ins Zimmer. Das Abendessen lehnte sie ab.“
Am 16.02.10 entscheidet der Facharzt aufgrund der inzwischen deutlich zutage
tretenden Hinweise auf die Symptomatik einer Psychose die Einweisung in die
Psychiatrie der Stadt D. Zwei Tage später wird Anja ins Krankenhaus gebracht.
Nach Aussagen der Mitarbeiter, die sie dort besuchten, haben sich bislang keine
wesentlichen gesundheitlichen Besserungen einstellen können. Über Anjas der-
zeitige Medikation liegen uns keine Informationen vor. Aus dem Krankenhaus
hieß es zuletzt, Anja wäre kaum ansprechbar, sie sei in sich gekehrt, z.T. ver-
wirrt, sie würde Stimmen hören und würde hin und wieder verbal aggressiv ge-
genüber dem Klinikpersonal auftreten. Bis heute ist Anja im Krankenhaus D. in
Im Projektteam wurde über diesen Fallverlauf nachgedacht:
Drei Punkte, die vielleicht nicht hinreichend berücksichtigt worden sind, seien
1. Eine evt. unzureichende Vorbereitung, auch hinsichtlich eines Krisenplanes
zur Bewältigung von leichteren Krisen bis hin zu Akutsituationen
2. Die in Betracht zu ziehende Möglichkeit, dass Anja mit der Kombination ih-
rer Ursprungsmedikation durchaus gut eingestellt gewesen sein könnte
3. Und vor allem, die zeitliche Überschneidung der 1. Reduktionsphase, der Re-
duzierung des Neurocils, mit der bevorstehenden Augenoperation und deren
Folgen auch auf das gesamte Wahrnehmungs- und Empfindungssystem der Per-
Abschließende Bewertungen
Insgesamt, so kann man an dieser Stelle sagen, ist der Projektverlauf als positiv
einzuschätzen. Bei fünf Bewohnern konnten gute, bisweilen nicht zu erwartende
Entwicklungen beobachtet werden. Der zuletzt dargestellte Fall der Anja Reine-
cke bildet bislang die einzige Ausnahme, und es besteht die Hoffnung, dass dies
auch so bleibt. Diese Ausnahme hat das Projektteam maßgeblich sensibilisiert,
bei der einen oder dem anderen sind sicher auch einige Zweifel entstanden, auf
die im nachfolgenden Vortrag vermutlich näher eingegangen werden kann. Im
Rahmen der Reflexionen zum Projekt wurde bspw. der Ablaufplan zur Medika-
mentenreduktion zeitlich gestreckt. Auch wurden die einzelnen Reduktionspha-
sen gedehnt. In den Wohnbereichsteams gibt es regelmäßige Supervisionen, die
Kommunikation zu den Projektteilnehmerinnen wurde im gesamten Team und
den Fachärzten intensiviert. Andere, nachfolgende Projektteilnehmern werden
uns weiteren Aufschluss und weitere differenzierte Erkenntnisse über die Medi-
kamentenreduktion im Rahmen des Projektes liefern. Haben Sie herzlichen
Es folgen die Folien! 1. Aufgaben und Methoden der Wissenschaftlichen Begleitung 2. Vorstellung des Ablaufplanes zur Medikamentenreduktion 3. Allgemeine Beobachtungen und deren Einordnung 4. Wenn Fälle berichten… Einige spezielle Beobachtungen Kurzporträt I Grit Schöne Kurzporträt II Anja Reinecke 5. Reflexion und Ausblick
1. Psychosoziales Verhalten 2. Körperlicher Bereich und Motorik 3. Intellektuelle Fähigkeiten 4. Selbständigkeit und eigene Aktivitäten
Herangehensweise an den Ablaufplan zur Medikamentenreduktion
1. Teilnehmervorschläge aus den Teams an die Heimleitung 2. Festlegung der Teilnehmer durch die Heimleitung und Vorschläge dergleichen an die Fach- ärzte 3. Check-up zur aktuellen Situation der Bewohnerin/des Bewohners durch die Fachärzte, Di- agnostik und weitere Untersuchungen, Abstimmungen, FÄ geben `grünes Licht´ und entwi- ckeln die Reduktionspläne - Zeitlicher Puffer, drei bis vier Wochen -
4a) In dieser Zeit erfolgen die Fallkonferenzen; hier auch die Erstellung des Krisenplanes 4b) Abstimmung der Fachärzte untereinander 5. Offizieller Beginn der Medikamentenreduktion 6. Kontrolle und Anpassung des Reduktionsplanens an die aktuelle Situation 7. Sammlung der Daten und Absprachen in den einzelnen Wohnbereichen 8a) Besprechung und Reflexion der Einzelfälle in den Teams 8b) Erstellung von Beobachtungsbögen zu den Einzelfällen 9. Monatliche Konsultationen zum Projekt IWM mit den Fachärzten 10. Supervision in den Teams der Wohnbereiche sowie Kommunikation, Reflexion und Bera-tung zu den Einzelfällen IWM in Wohnbereichs- und Teamleitersitzungen
Fall I: Grit Schöne
Ausgangsmedikation 1. Änderung: Dipiperon 40mg ab 07.09.09
2. Änderung: Risperdal 0,5mg ab 09.11.09
3. Änderung: Garbapentin 400mg ab 21.12.09
Fall II: Anja Reinecke
Ausgangsmedikation 1. Änderung: Neurocil 25mg ab 07.09.09
2. Änderung: Akineton (Reduktion parallel zum Neurocil) ab 07.09.09
3. Änderung: Carbamazepin 200mg ab 01.01.10
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June 28, 2010 VENUS REMEDIES ENTERS AUSTRALASIA REGION WITH GRANT OF PATENT FOR POTENTOX FROM NEW ZEALAND Venus Remedies has marked its presence in the region of Australasia by receiving a patent from Commissioner of Patents , Trademarks & Design, Intellectual Property office of New Zealand for its antibiotic Potentox, a fixed dose combination of cefepime and amikacin. This unique